LDK: Alex Bonde vs. Cem Özdemir – wie kam das?

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Es war ein aufregendes und zuweilen auch aufreibendes Wochenende. Wie viele von euch ja mitbekommen hatten, hatten wir Grünen in Baden-Württemberg einen Landesparteitag alias Landesdelegiertenkonferenz (LDK) in Schwäbisch Gmünd. Es ging um nichts Geringeres als die Aufstellung der Landesliste zur Bundestagswahl 2009.

Die ersten acht Plätze gelten als sicher, so viele sind auch aktuell im Bundestag. Davor waren es sogar neun. Ein Prozent für Grüne bundesweit soll wohl in etwa einen Listenplatz in Baden-Württemberg bedeuten. In den Umfragen stehen wir derzeit bei 8-12 %. Kandidaten gab es aber 28 (27 schriftliche plus eine rein mündliche).

Kein Wunder, dass da nicht jeder bekommt, was er will. Ich wollte Alex Bonde auf Platz 4 und Cem Özdemir auf Platz 6. Kerstin Andreae und Fritz Kuhn auf Platz 1 und 2 waren eh unumstritten. Außerdem wollte ich unsere Stuttgarter Bundestagsabgeordnete Biggi Bender wieder unter den ersten acht haben.

Auf Platz 4 setzte sich dann aber der Parteilinke Gerhard Schick gegen Realo Alex Bonde durch. Damit hatte ich vor Beginn des Parteitags nicht gerechnet. Also hoffte ich fortan auf Platz 8 für Alex und machte auch Werbung für ihn – soweit das neben dem Twittern möglich war.

Auf Platz 6 scheiterte dann Cem Özdemir trotz seiner vielbeklatschten Rede gegen den linken Tübinger Winne Hermann. Erst da wurde mir und vielen anderen klar, dass nun auf Platz 8 mit Alex und Cem zwei Realos gegeneinander kandidieren, wenn nicht einer von beiden zurückzieht. Die Linken machten klar, dass sie sich hier jetzt raushalten und keinen Kandidaten ins Rennen schicken. Aber das Realo-Lager war ratlos – und gespalten. Diese Situation hatte einfach keiner vorhergesehen und daher gab es keinen Plan, wie man mit dieser Situation umgeht.

Für Cem ging es darum zusätzlich zum angestrebten Bundesvorsitz der Partei noch ein sicheres Mandat zu bekommen. Ich glaube auch, dass ein Bundesvorsitzender mit Mandat mehr Möglichkeiten hat und hätte es daher gut gefunden, wenn Cem einen sicheren Bundestagslistenplatz bekommen hätte.

Aber für Alex ging es darum, ob er überhaupt in der (Berufs-)Politik bleibt oder ob man ihn rauskegelt, obwohl er einen verdammt guten Job macht. Er vernetzt die verschiedenen Ebenen, ist im Landesvorstand aktiv, bindet die Jugend ein, kommuniziert seine Arbeit, macht sie transparent und reflektiert auch seine Positionen. Als ich 2004 nicht wieder in den Grüne-Jugend-Landesvorstand wiedergewählt wurde, rief er mich an und sprach mir Mut zu („Hoffe, du bleibst dabei“).

Daher konnte ich einfach nicht Alex Bonde aus dem Bundestag kegeln, nur damit Cem als künftiger Bundesvorsitzender auch ein Mandat hat. Und viele andere dachten genauso. Ich war sehr überrascht als ich mit einem Kreisverband sprach von dem ich dachte, sie würden komplett Cem unterstützen. Sie waren alle für Alex in dieser Situation.

So habe ich – und andere – dann mehrfach versucht Cem davon zu überzeugen, nicht gegen Alex anzutreten, sondern auf Platz 10. Auf Platz 8 verzichten, damit Größe zeigen und dann auf Platz 10 mit super Ergebnis gewählt werden. Das wäre doch die bessere Alternative zur Niederlage auf Platz 8 und ein schönes, optimistisches Signal, dass wir viele Plätze holen. Vielleicht kommt ja Platz 10 auch rein. Aber er wollte es wissen und hatte eben auch Berater, die ihm das Gegenteil von dem sagten, was ich sagte und so trat er auf Platz 8 an und Alex gewann.

Dann verließ er eilig und wortlos den Parteitag und wir alle hofften, dass er nun nicht seine Kandidatur als Bundesvorsitzender zurückzieht. Linke wie Realos waren sich einig, dass Cem Bundesvorsitzender werden soll. Es gab aber eine Mehrheit auf dem Parteitag, die Parteivorsitz und Bundestagsmandat getrennt haben möchte (was für die Landesebene auch nach wie vor in der Satzung steht). Außerdem gab es mehr gute Kandidaten als gute Plätze – und Cem war der einzige, der mit dem Bundesvorsitz noch ein weiteres Standbein in der Berufspolitik hatte. Er war also der einzige männliche Kandidat, den man bei einer Nichtaufstellung nicht aus der Politik rauskegeln würde.

Es war wirklich eine äußerst schwierige Situation, aber ich bin nach wie vor fest davon überzeugt, mich richtig entschieden zu haben. Man darf nicht alles nur der Pressewirkung wegen opfern. Mit dem Mandat für Alex wäre der Preis einfach zu hoch gewesen. Ich möchte mich an dieser Stelle auch bei Cem bedanken. Es ist verständlich, dass es nach diesem Parteitag keine leichte Entscheidung ist, trotzdem weiter als Bundesvorsitzender zu kandidieren. Um so froher bin ich, dass er es tut.

Und so ist das letztendliche Ergebnis des Parteitags unterm Strich und mit etwas Ruhe betrachtet auch viel weniger krass als das Gefühl mit dem man da rausging:
1. Unter den ersten acht Plätzen ging ein Platz mehr an den linken Flügel als bei der letzten Listenaufstellung.
2. Unter den ersten acht Plätzen ist nur eine, die bisher nicht im Bundestag war.
3. Cem hat kein Bundestagsmandat bekommen, kandidiert aber weiter als Bundesvorsitzender.

Alles also eigentlich halb so wild auch wenn es hinter den Kulissen jetzt erst einmal heiß hergehen wird, weil das alles so nicht erwartet war und man versuchen wird, so gut es geht zu analysieren, woran das jetzt lag. Aber man sollte dabei eben auch nicht übertreiben und das Ergebnis dramatisieren.

Platz 1-11 der Bundestagsliste der Grünen Baden-Württemberg für die Bundestagswahl 2009
Die Bundestagskandidaten Platz 1-11 plus Landesvorsitzende, von links: Memet Kilic, Sylvia Kotting-Uhl, Beate Müller-Gemmeke, Petra Selg (Landesvorsitzende), Ingrid Hönlinger, Agnieszka Malczak, Kerstin Andreae, Gerhard Schick, Fritz Kuhn, Winne Hermann, Alex Bonde, Biggi Bender und Daniel Mouratidis (Landesvorsitzender)

Dieser Beitrag hat 33 Kommentare

  1. Robin

    Finde es gut, dass du so offen über die Vorgänge und Überlegungen schreibst. Das hat mir jedenfalls mehr Einblicke gewährt als all die „tollen“ Presseberichte!

  2. peyman

    Ich sehe das genau andersrum. Cem auf 8 Alex auf 10 und alles wäre gut.
    Denn nur mit einem richtig starkem Cem können wir die aktuelle positive Stimmung (Umfragewerte von 17 %) nutzen und ein richtig gutes Ergebnis erzielen. So gut, dass wir auch den 10. Platz hineinbekommen.
    Der schaden für die gesamt Partei ist so viel größer, als andersherum. Ich kann Deine Argumente gut nachvollziehen, aber es kann nicht sein, dass wir Grüne Cem um ein Haar komplett aus der Politik gekegelt hätten. Cem ist so erfahren und hat ein so starkes Team, dass er in den Bundestag gehört und Gesetze gestallten soll.

  3. Till

    @peyman: Dann hätte er sich nicht für den Bundesvorsitz breitschlagen lassen sollen, sondern mit offenem Visier für ein Bundestagsmandat kämpfen müssen.

  4. peyman

    ja da ist was dran!

  5. Wolfgang G. Wettach

    @peyman: Mit einem richtig starken Cem die generelle Stimmung, die Grosswetterlage nutzen – einverstanden.

    Wie Du, Henning habe auch ich versucht, Cem von einer Kandidatur auf Platz 8 abzuhalten. Während ich mich über Platz 6 für unseren Tübinger Winne Hermann extrem viel mehr gefreut habe als du (ich stand bei Winne und bin sofort mit ihm jubelnd hochgesprungen) war ich bei Platz 8 für den sogenannten Realo Alex Bonde, weil er ein solider Haushaltspolitiker ist, im Verteidigungsausschuss eine gute Figur macht, als Landesgruppenchef sich extrem engagiert und auch bei strittigen Themen bereit ist, sich in die Argumente der Gegenseite einzuarbeiten. Cem auf 10, nachdem er vorher bei seiner Kandidatur angekündigt hatte nicht gegen Alex Bonde anzutreten, hätte breite Unterstützung über die Flügel hinweg bekommen – und einen Platz der ihm hätte reichen können.

    Wie andere auch habe ich schon vorher erklärt, ihm und noch vorher einem seiner engagiertesten Tübinger Unterstützer gegenüber, dass er nach seiner Wahl zum Vorsitzenden meine volle Unterstützung in diesem Amt haben würde – und dazu stehe ich auch. Und darauf, Peyman, kommt es jetzt glaube ich an, dass wir diese Unterstützung jetzt zeigen, für die Doppelspitze! der Partei – damit die Partei an einem Strang ziehend die Wähler mitzieht.

  6. Sebastian Engelmann

    Blogs und Twitter geben mir wahrhaft guten Einblick in das, was mittlerweile auf LDKs passiert.
    Ich kann einen Teil zu dieser Debatte aus der Perspektive eines Journalisten mit grüner Affinität beitragen: Özdemir ist in der Tat hohes Risiko eingegangen, er musste damit rechnen, dass es nicht klappen könnte. Mich würde mal interessieren – Einblicke habe ich nicht – wie stark sich die führenden Realpolitiker im Landesverband wirklich für ihn engagiert haben. Ob die Linke Zusagen eingehalten oder gebrochen hat, vermag ich nicht zu sagen.
    Vielmehr hat der Parteitag in mir die Überzeugung reifen lassen, dass das Verhältniswahlrecht überdacht werden muss. Winne Hermann ist wohl in der Partei sehr beliebt – darüberhinaus kennt ihn kein Mensch. Sein größter Auftritt liegt ja nun auch schon sieben Jahre zurück.
    Wer für eine kleine Partei in den Bundestag will, muss in erster Linie seiner Partei gefallen, nicht den Wählern. Wenn Winne Hermann – rein hypothetisch angenommen -5% an Erststimmen bekommt, sitzt er im Bundestag. Wenn Özdemir vielleicht in Stutgart nur knapp am Direktmandat scheitern würde, wäre er trotzdem nicht drin.
    Da stimmt etwas nicht. Parteiflügel entscheiden darüber, wer die Wähler eines Wahlkreises im Bundestag vertreten soll. Und es zählt vor allem das Parteiengagement, nicht das Wahlkreisengagement. Ich meine, dass Winne Hermann mittlerweile auch in Belrin lebt und nicht mehr seinen Erstwohnsitz in Tübingen hat.

    Und zum Schluss sei noch gesagt: Eenn sich weiterhin – bei überfüllten Kommunikationskanälen – die Sprecherollen auf mind. vier Köpfe bei den Grünen verteilen, werden sie medial nicht durchdringen.

  7. Jan

    Ich stimme da Wolfgang voll zu. Ich habe mich riesig für Winne gefreut, als ich hier am Montag morgen von seinem Erfolg gehört habe. Gleiches gilt auch für Beate. Und zwar bei beiden inhaltlich, aber vor allem auch persönlich. Ich habe es von Anfang an für eine blöde Idee gehalten, Cem auf Teufel komm raus auf oben die Liste hiefen zu wollen. Die Abgeordneten gegen die er kandidieren musste haben allesamt sehr gute Arbeit gemacht und sich ein gutes Standing bei den KVs erarbeitet – da reinzupreschen war schlicht und ergreifend schelcht durchdacht. Zumal Cems Vergangeheit eben doch nicht überall vergeben und vergessen ist.
    Es hätte von Grösse und Selbstbewusstsein gezeugt, wenn Cem gleich augf Platz 10 kandidiert hätte mit der klaren Ansage: Mit mir als Vorsitzendem werden wir Grünen stark genug, um auch Platz 10 aus BaWü in de BT zu schicken.

  8. Jan

    @Sebastian
    Ich habe da ein etwas anderes Verständnis von Parteiendemokratie. Wir als Partei machen den WählerInnen ein personelles und inhaltliches Angebot – und diese entscheiden dann, welches Paket ihnen am besten gefällt. Wer das Paket verändern will, muss in eine Partei eintreten. So ist unser System im Moment, und das schlechteste ist es sicher nicht. Komplementär fordern wir nicht umsosnt eine Ausweitung des Wahlrechts auf jüngere Menschen und die Einbindung von deutlich mehr direktdemokratischen Elementen.
    Das diejenigen, die sich am intensievsten mit der Arbeit der Abgeordneten beschäftigen entscheiden, und nicht diejenigen, die nur hin und wieder ein Gesicht aus dem Fernsehen wiedererkennen und dann nach Charisma und „Sichtbarkeit“ wählen ist eigentlich doch eine gute Sache. Gerade wenn Übermedialisierung und Personalisierung immer wider problematisiert werden.

  9. Agnieszka

    @ Sebastian: ja, das ist wohl (mittlerweile?) die Sicht eines Journalisten.

    Insgesamt ist die Presse bis auf einige wenige Ausnahmen nicht gerade besonders gut informiert über die Grünen bis grottenschlecht
    (damit meine ich jetzt nicht dich ;), sondern z.B. SPON, Ausnahme waren faz und sueddeutsche)

    Insgesamt halte ich deine Analyse für falsch, weil Winne dauernd in den Medien (Olympische Spiele, Bahnbörsengang etc.) auftaucht, in ganz BaWü bei so ziemlich allen Kreisverbänden und Parteitagen präsent war (was mensch vom Cem leider nicht sagen kann) und in Tübingen super Ergebnisse macht und sehr präsent und engagiert ist. Ähnliches gilt in unterschiedlichen Nuancen auch für Gerhard, Sylvia, Beate, Alex oder Heide Rühle – das wurde honoriert, nicht so sehr die Flügelzugehörigkeit.

    Und dann waren es diesmal nicht die Flügel, die entschieden haben, obwohl sie diesmal zahlenmäßig gleich stark waren, sondern ganz viele Delegierte, die frei gewählt haben: jeder Versuch auf diese Leute Druck auszuüben ist in die Hose gegangen – das hat die Reaols noch mal zusätzlich um Stimmen gebracht, genauso wie ihr Überangebot, das vielen Leuten (eventuell auch zu Unrecht – kann ich nicht sagen) suggeriert hat, hier sollen am besten nur Realos/Realas auf die Liste.

    Das ist noch keine umfassende Analyse, ich blogge morgen selbst noch mal ein eigenes Fazit.

  10. Agnieszka

    ach ja und winne hat sehr wohl seinen erstwohnsitz in tübingen…

  11. peyman

    Cem ist fachlich extrem stark, dass kann man ihm nicht abstreiten. Er hat soviel parlamentarische Erfahrung, dass er ohne Zweifel seine Themenschwerpunkte sehr stark besetzt hätte. Das wäre ein Zeichen gewesen wie wichtig diese Themen uns Grünen wirklich sind (Migration, Bildung und Bürgerrechte). Diese Themen besetzt nun niemand so präsent.
    Und als solch erfahrener Politiker und designierter Vorsitzender geht man nicht auf Platz 10. Man geht auf einen aussichtsreichen Platz um auch rein zukommen. Alles andere ist Quatsch.
    Ich kann die Delegierte schon teilweise verstehen, aber wenn man weiter denkt, sieht man, dass wir uns dadurch doch eine große Chance verbaut haben. Schade schade.

  12. Sebastian Engelmann

    @Agnieszka, Jan

    Ja, du kannst mir mittlerweile eine gewisse Distanz zutrauen.

    Mir geht es gar nicht darum, welcher Flügel der Partei nun am Wochenende dominiert hat oder nicht.
    Ich weiß auch, dass Hermann durchaus von den Kollegen gerne zu bestimmten Themen gefragt wird, ich weiß aber auch von meiner eigenen Arbeit in Berlin, dass er in Journalistenkreisen nicht unbedingt als Schwergewicht gilt. Aber darauf will ich nicht hinaus.

    Mal angenommen: Ich bin berufstätig, möchte aber gerne für die Grünen in den BT und engagiere mich deswegen sehr intensiv vier Jahre lang auf Wahlkreisebene – da wird mir i.d.R. die Zeit fehlen, mich noch intensiv auf Landesbene der Partei zu engagieren. Habe ich dann eine Chance, auf einen sicheren Listenplatz zu kommen? Nein.
    Haben Quereinstieger sonderlich viele Chanen? Nein.

    Wer engagiert sich denn beispielsweise überproportional in der GJ? Schüler und Studenten. Die haben die Zeit für die Gremienarbeit und alles, was zur Parteiarbeit eben dazugehört. Aber es geht eben vor allem um die Partei.
    Drastisch formuliert: Ich müste mich vier Jahre lang kaum in meinem Wahlkreis blicken lassen, so lange ich in der Partei präsent bin, hat das wenig Konsequenzen.

    Schaut mal in die USA: Die Mitglieder des Repräsentantenhauses verhalten sich viel responsiver, das Verhältnis zwischen Wähler und Abgeordneten sit viel enger.

    Allerdings fällt es mir schwer, für das Mehrheitswahlrecht zu plädieren. Ich bin noch auf der Suche nach Lösungen.

    Ich glaube nicht, dass so viele Kollegen falsch informiert waren. Journalisten haben nun mal einen anderen Blick auf Parteitage. Ich weiß es selbst aus eigener Erfahrung, dass man als Delegierter Dinge anders erlebt. Und als Journlaist konnte man durchaus zu dem Schluss kommen: Da fällt ein profilierter Politiker durch – aus welchen Gründen auch immer – der in der Tat so etwas wie der inoffizielle Sprecher aufgeklärter Muslime in Deutschland ist, einmal gegen einen Linken, der nun mal in der Bevölkerung wenig bekannt ist (außer in seinem Wahlkreis) und einem Realo, der bienenfleißig sein mag, aber eben etwas bürokratisch-leidennschaftslos wirkt.

  13. Sebastian Engelmann

    Kleiner Nachtrag: mir ist durchaus bewusst, dass Parteien in den USA eine geringere Rolle spielen. Aber ich wünsche mir eine größtere Identität zwischen Abgeordneten und den Wählern seines Wahlkreises. Sie sollten entscheidend sein.

    Und bezüglich der Absenkung des Wahlalters Jan: Wir machen dazu an der Universität Hohenheim momentan eine Untersuchung. Die Endergebnisse präsentiere ich euch dann gerne, kann aber schon jetzt sagen, dass unsere Befunde dem widersprechen werden.

  14. Andi B.

    Ich habe in Deinem Artikel, Henning, viele gute Argumente für Alex gelesen, aber für Cem nur eines: ein Bundesvorsitzender mit Mandat hat mehr Möglichkeiten als einer ohne. Mir fallen noch mehr Gründe ein, warum Cem ein Mandat haben sollte:

    Cem ist einer der wenigen GRÜNEN Politiker, die im TV nicht peinlich rüberkommen. Aber viel wichtiger ist: Cem hat im Europaparlament gute Arbeit gemacht, er war außenpolitischer Sprecher der EP-Fraktion, er hat zum Verhältnis EU-Türkei, sowie zu den Themen Islam und Integration gearbeitet, die für die deutsche Politik extrem wichtig sind. Er war unter anderem Vize-Präsident des so genannten CIA-Ausschusses des Europäischen Parlaments und maßgeblich dazu beigetragen, die Tätigkeiten der CIA im Zusammenhang mit dem Anti-Terrorkampf aufzuklären. Im EP hat er sich zudem für eine präzise Rahmengesetzgebung bei Datenschutz und Anti-Terrorkampf eingesetzt.

    Als Einwanderer ist Cem für Migranten in Deutschland eine Integrationsfigur mit erheblicher Strahlkraft. Uns kostet das Nicht-Antreten von Cem auf der Landesliste mindestens 1% – Stimmen, die von denjenigen gekommen wären, die nicht immer einen deutschen Pass besaßen. Sie haben sehr aufmerksam verfolgt, wie die GRÜNEN abgestimmt haben.

    Cem ist einer der erfahrensten Politiker, die wir haben: 8 Jahre Bundestag, 5 Jahre Europaparlament. Die europapolitische Erfahrung ist wichtig für die Fraktion, da ein großer Teil der Gesetzgebung in Brüssel stattfindet und in Deutschland, im Bundestag, umgesetzt werden muss. Keiner aus der Bundestgafraktion saß bisher im EP.

    Einen inhaltlich derart erfahrenen Politiker zu versagen, an der Stelle Politik zu machen, wo Gesetze wirklich gestaltet werden, ist ziemlich fahrlässig. Die GRÜNEN haben auf diesem Parteitag Cem in aller Öffentlichkeit gedemütigt und damit den künftigen Bundesvorsitzenden beschädigt. Sie haben sich für nette und fleißige Politiker entschieden. Das sagt zumindest die Kommentarlage in der Presse. Ich finde, man kann sich diesem Fazit der Presse nicht ganz verschließen – gerade, wenn man sich Deine hier geschilderte Binnensicht zu eigen macht.

  15. Sebastian Engelmann

    @ Anid B.: Genau das habe ich mir auch überlegt, wie viele andere Journalisten auch. Wichtig ist es, auf Parteiebene engagiert zu sein und sich bei den Kreisverbänden usw. zu zeigen, wie es ja auch hier geschrieben wurde ( was ohne Zweifel wohl wichtig ist). Aber das ist eben diese Parteifixierung, die mich so stört am System. Die Wähler, die nicht Parteimitglied sind, sind zweitrangig, zuerst kommt die Partei. Und wer dort gut vernetzt ist, hat beste Chancen. Aber diese Vernetzung erfordert eine Konzentration auf die Partei.
    Überhöhen sollte man Özdemir trotzdem nicht: Er hat auch gute Gründe, weiter Vorsitzender werden zu wollen. was soll er denn sosnt machen? Er will unbedingt in die nationale Politikarena zurück.
    Aber richtig ist auch, dass er den anderen Parteivorsitzenden gegenüber sturkturell im Nachteil ist, wenn er künftig nicht im BT sitzt. Mich wundert im Übrigen die Einschätzung mancher Grüne, dass Bütikofer auch ohne Mandat ein starker Vorsitzender gewesen sein soll. Bütikofer war nicht nur arrogant eigenen Parteimitgliedern gegenüber, er war auch blass und hat wohl niemanden überzeugen können, der nicht sowieso Grünenaffin ist. Mich hat er eher an einen Finanzbeamten erinnert, asl an einen Politiker, der auch mit Leidenschaft für Themen kämpft.

  16. peyman

    Ich kann Andis Aussagen nur Unterstreichen!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!

  17. Till

    Vielleicht spricht manches dafür, die Regel, dass Listen von Parteien aufgestellt werden, aufzuweichen. Das muss aber erstens kein Mehrheitswahlsystem sein (dazu gleich mehr), muss zweitens nicht absolut geschehen und sollte drittens berücksichtigen, dass das empirische Beispiel Nr. 1, die USA, damit vor allem eine mehr oder weniger ununterscheidbare Einparteienherrschaft, über Jahrzehnte wiedergewählte MandatsträgerInnen und eine nur begrenzt lobenswerte Politik (und viele, viele „earmarks“ für lokales Lobbytum) hervorgebracht haben. Der Filter „Partei“ hat schon einiges für sich.

    Aber nochmal zum Aufweichen: es gibt relativ kleine Änderungen im Wahlrecht, die den Einfluss der WählerInnen deutlich vergrößern. Bayern ist dafür das beste Beispiel: wenn ich das Landtagswahlrecht richtig verstehe, gibt es nicht nur eine Erststimme für ein Direktmandat (ach ja, lieber Herr Engelmann: auch in Deutschland wird die Hälfte der Bundestagsmandate immer noch nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt, aber das nur mal so nebenbei festgestellt — wenn Cem in Stuttgart I Erststimmenkönig wird, ist er auch drinne), sondern es gibt in Bayern auch die Möglichkeit, mit der Zweitstimme die Reihenfolge der ListenkandidatInnen zu ändern. Das erscheint mir sinnvoll: die Partei macht einen Vorschlag — aber die WählerInnen entscheiden, ob es bei diesem Vorschlag bleibt oder ob nicht doch der beliebte Politiker von Platz 10 nach vorne gewählt wird.

    Jede Ausweitung von Demokratie in dieser Hinsicht ist allerdings auch mit einer Deinstitutionalisierung von Risiken verbunden. Soll heißen: das individuelle Risiko, das Abgeordnete mit dem Versuch einer Wiederwahl eingehen, steigt. Das ist ja auch heute schon beachtlich (vgl. B. Bender zum Andrenalinausstoss auf Parteitagen). Institutionalisierte Verfahren wie eine Neuenquote wären hier evtl. fairer — aber undemokratischer. Und von der Parteispitze ausgehandelte Listenvorschläge wären noch sicherer, aber überhaupt nicht mehr grün …

  18. Sebastian Engelmann

    @Till: Bitte genau meine Beitrgäe lesen:
    „Wenn Özdemir vielleicht in Stutgart nur knapp am Direktmandat scheitern würde, wäre er trotzdem nicht drin.“
    und
    „Wer für eine kleine Partei in den Bundestag will, muss in erster Linie seiner Partei gefallen, nicht den Wählern.“

    Ich habe nicht geschrieben, „wenn Özdemir die meisten Erststimmen erhält“ und ich habe mich explizit auf die kleinen Parteien bezogen. Du scheinst mir ja zuzutrauen, dass ich unser Wahlsystem nicht kenne, aber ganz soweit ist es noch nicht gekommen.

  19. Till

    @Sebastian: ich bezog mich mehr auf „Vielmehr hat der Parteitag in mir die Überzeugung reifen lassen, dass das Verhältniswahlrecht überdacht werden muss.“ — und auf die Tatsache, dass ein (simples) Mehrheitswahlrechts Cem immer noch nicht in den Bundestag bringen würde, und Winne auch nicht. Dann hätten wir nämlich schlicht ein Zweiparteiensystem — oder Koalitionsabsprachen und gemeinsame Listen vor der Wahl. Finde ich beides wenig sinnvoll.

  20. Bastian W.

    Wenn wir Grüne unsere MandatsträgerInnen irgendwann tatsächlich danach aussuchen, wie sie „im TV rüber kommen“, wie lange schon in Parlamentssesseln hocken oder wie gut „zur Presse durchdringen“, dann können wir die Selbstauflösung beschließen. – Was wollen wir denn ändern mit unserer Politik? Die Gesellschaft nach unseren Vorstellungen oder uns nach den Vorstellungen der Gesellschaft?

  21. Andi B.

    @ Basti: Ja, sicher, aber es gibt wichtigere Argumente, die habe ich auch genannt.

    Aber: wir brauchen nicht nur die guten Ideen, sondern eben auch Botschafter für diese Ideen – und da haben wir leider nicht zu viele (Botschafter und Ideen….).

  22. Till

    Ideen haben wir glaube ich mehr als genug, und potenzielle BotschafterInnen (selbst unter der Randbedingung der Telegenität) dafür fallen mir auch deutlich mehr ein, als wir Sendeplätze kriegen.

  23. Andi B.

    @ Till: aber kaum einer, der auch eingeladen wird. Darin liegt doch der Unterschied.

    Grundsätzlich halte ich es ja ebenfalls für doof, wenn wir Telegenität zu einem Hauptargument machen, das ist sicherlich grundfalsch. Es war aber nicht mein wichtigstes Argument und ich bitte darum, das, was ich oben geschrieben habe, nicht darauf zu reduzieren. Allein die Europakompetenz hätte für mich ausgereicht, Cem einen ausichtsreichen Platz auf der Landesliste zu geben. Aber die Mehrheit entschieden – so ist es, auch, wenn es mir nicht passt.

  24. Sebastian Engelmann

    @ Till: Es ging mir ja gar nicht um die Person Cems, das war ein Beispiel, es ging mir um die Nachteile von Listen, die von Parteien aufgestellt werden. Ich habe außerdem, denke ich, deutlich gemacht, dass für mich das winner-takes-it-all-Prinzip ebenso nicht wünschenswert ist. Ich bin selbst noch nicht so weit, dass ich einen überzeugenden Lösungsvorschlag habe, allerdings ist das sehr interessant, was du von Bayenr berichtet hast.

    @Bastian: Ein großer Teil der Menschen in diesem Land nimmt Politik über die Medien wahr. Deswegen ist politische Kommunikation über die medialen Kanäle sehr wichtig. Kurt Beck ist u.a. daran gescheitert, dass sein Erfolgsprinzip, nämlich die Leute vor Ort direkt anzusprechen, in Belrin nicht mehr funktioniert hat. Dort muss man über die Medien kommunizieren, das ist ihm wenig gelungen.
    Die Grünen haben vier potenzielle Kommunikatoren, plus einiges Prominenten wie Trittin. Also ein Stimmendurcheinander. Und das auch noch als kleinste Fraktion. Dass sie dann nicht durchdringen ist klar. Es sind zu viele. Die Konkurrenz um die mediale Aufmerksamkeit ist immens, da kann man nicht erwarten, dass ein Quartett gleichsam Gehör findet. Umso weniger Sprecher, umso effizienter die Kommunikation.
    Kann man jetzt gut oder schlecht finden, ist aber so.

  25. niels

    Wenn ich bei Euch Mitglied wäre, fände ich dieses permanent halbformalisierte Ausbalancieren zwischen links und rechts, Männlein und Weiblein sehr nervig.

  26. Till

    @niels: Das eine ist ja gar nicht halbformalisiert, sondern klar geregelt (also die Geschlechterquote). Und das versucht wird, unterschiedliche Strömungen in der Partei — die derzeit tatsächlich etwa gleich stark sind — zu repräsentieren, statt drauf zu setzen, dass sich die etwas stärkeren schon durchsetzen werden, mag zwar nicht immer bequem sein, verhindert aber letztlich das Zersplittern.

  27. thorsten

    @ Henning: Gerhard Schick schlicht zu den „Linken“ zu zählen ist schon etwas mutig, oder? Oder sind alle „links“, die sich nicht in die Realo-Netze (zwangs)integrieren (lassen)…?

  28. Henning

    @thorsten
    Jemanden, den ich auf nem Linken-Treffen antreffe, in das ich aus Versehen reinplatze, kann man gut als Linken bezeichnen, finde ich. Und ich wüsste auch niemanden, der zwangsintegriert worden wäre.

  29. thorsten

    Na ja – die von mir angedeutete (Zwangs-)Integration findet ja auch eher mittelbar statt – oder wieviele Leute kennst Du, die zu keinem der „beiden Netzwerke“ gehören und es auf relevante Posten schaffen? Aber das wäre ein längeres Thema.
    Genau angesichts dieser Zustände ist eine Anwesenheit bei einem entsprechenden Treffen im Vorfeld einer Kandidatur auch nicht zwingend eine Festlegung, würde ich meinen. Aber da müssten wir Gerhard vielleicht einfach persönlich fragen.

  30. Till

    Ich kenne einige, die sich selbst bis vor kurzem nicht zu den Linken bei den Grünen gezählt hätten, aber inzwischen bei uns gelandet sind. Gerhard legt allerdings, so weit ich ihn kenne, Wert darauf, sich nicht von links vereinnahmen zu lassen …

  31. Messetunnel

    Spät, aber ich melde mich trotzdem noch dazu:
    Wenn es in Berlin wirklich gewünscht gewesen wäre, dass Cem 100% im Bundestag sein wird, hätte es doch noch Platz 2 gegeben?
    Warum denkt eigentlich niemand über die Optíon nach?

  32. Henning

    Platz 2? Wie? Wo? Cem hat in BaWü für Platz 6 und 8 kandidiert.

  33. Dennis

    Genau das meinte Messetunnel ja Henning. Weshalb (wenn Cem im Bundestag so wichtig wäre) haben die „Realos“ in nicht auf Platz 2 ins Rennen geschickt.
    Und ich liefere die Antwort gleich mit: Weil spätestens in Konkurrenz zu Fritz Kuhn die Delegierten sich hätten fragen müssen warum Cem eigentlich im Bundestag anderen Leuten vorgezogen werden soll. Sogar im Vergleich zu Kuhn anstelle dessen ja fast 40 % der Delegierten lieber überhaupt keinen Kandidaten auf 2 aufgestellt hätten.

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